die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1978
Text # 130
Autor Andrew Lloyd Webber & Tim Rice
Musical
Titel Evita
Ensemble/Spielort Prince Edward Theatre/London
Inszenierung/Regie Hal Prince
Hauptdarsteller Elaine Page/Dvid Essex
Uraufführung
Sendeinfo 1978.06.24/DLF/SWF Kultur aktuell/RB 1978.06.26/ORF Wien/Nachdruck: Darmstädter Echo

Die Voraus-Publicity war nicht mehr zu überbieten. Seit zwei Jahren kennt man die Musik zu ‘Evita’, der neuen Pop-Oper von Andrew Lloyd Webber und Time Rice, den Autoren des Musicals ‘Jesus Christ Superstar’, das seit sechs Jahren im Londoner Palace Theatre vor ausverkauftem Hause läuft und einem alles überbietenden neuen Langzeitrekord entgegeneilt. Seit Monaten berichten die Londoner Zeitungen über die Vorbereitungen zur lange erwarteten Welturaufführung von ‘Evita’, über Besetzungsfragen, über die mühsame Auswahl unter den mehr als dreihundert Bewerberinnen um die von nahezu allen jüngeren Schauspielerinnen des englischsprachigen Theaters heiß begehrte Titelrolle – von allen, bis auf jene eine, Julie Covington, die die Rolle für die Plattenaufzeichnung sang, entscheidenden Anteil hatte an deren sensationellem Verkaufserfolg und darum auch als erste Wahl für die Bühnenversion des Stückes zur Diskussion stand, doch das verlockende Angebot ausschlug, weil sie sich nicht auf Jahre an eine Musical-Show binden, stattdessen sich lieber den künstlerisch ernster zu nehmenden Aufgaben des Nationaltheaters und anderer Schauspielbühnen des Landes widmen wollte. Ein erstaunlicher, bewundernswerter Entschluß.

Für sie suchte und fand man einen mehr als nur würdigen Ersatz, eine fast unbekannte englische Schauspielerin und Sängerin, die wegen ihres Talents, ihrer enormen persönlichen Ausstrahlung und, vor allem, wegen ihrer atemberaubend klaren, kraftvollen Stimme, die die musikalischen Schwierigkeiten der Partie mit traumwandlerischer Sicherheit meistert, sich vor keinem Star der Welt zu verstecken braucht und – wie es so oft in den Berichten über den steilen Aufstieg neuer Sterne am Himmel des Showgeschäfts heißt – selbst wirklich über Nacht zum Weltstar wurde: Elaine Page, ein Mädchen von zierlicher Gestalt, vor kurzem noch Chorus-Girl in ‘Jesus Christ Superstar’, daß Publikum und Kritiker, die zur festlichen Premiere des neuen Superstar-Stückes erschienen waren, sich vor Begeisterung nicht zu halten wußten. ‘Evita’ wurde zu einem der größten Erfolge der britischen Musical-Geschichte.

Das neue Stück aus der Werkstatt der Autoren Andrew Lloyd Webber und Time Rice ist musikalisch reicher und vielfältiger als die Partitur seines Vorläufers. Webber, der Komponist, nennt das Werk eine Oper. Es enthält praktisch keine gesprochenen Dialoge mehr und ähnelt, wie einige der Kritiker bestätigten, eher einer Bühnenkomposition von Puccini als dem herkömmlichen Musical, in dem – nach der alten Definition jener immer noch jungen theatralischen Gattung – Text, Musik und Tanz in vollem Umfang als gleichberechtigt gelten. Und obwohl in diesem Fall die Qualität der Texte für die Lieder und Rezitative nicht unterschätzt werden sollte und die meisten Tänze, vor allem die herrlich parodistisch angelegten Gruppenbewegungen der schwarzbrilligen Generäle und der blasierten Vertreter der argentinischen High Society, integraler Bestandteil des Stückes sind, erscheint die Musik doch als das eigentlich wesentliche Element dieses szenischen Gebildes, dem hier die meisterliche Regie des amerikanischen Musical-Spezialisten Hal Prince im Hinblick auf die Übertragbarkeit des handlungsarmen musikalischen Plots in die Bildhaftigkeit der Bühne maßgeblich geholfen haben dürfte.

‘Evita’ ist kein Stück über die politische Wirklichkeit der peronistischen Ära oder über die historische Rolle, die Eva Peron, die Frau des Diktators, darin spielte. Es ist die Geschichte vom glorreichen Aufstieg eines illegitim geborenen Bauernmädchens zur Heiligenfigur eine Nation, in welcher die Masse des Volkes, heute wohl ärger denn je, von einer kleinen Clique korrupter Militärs im Auftrag der Großbourgeoisie in Angst und Schrecken gehalten wird. Die Autoren sind interessiert an der zwielichtig glamourösen Persönlichkeit der Evita Peron, ‘Santa Peronista’, eine Kreuzung von Hure und Heiliger, nicht an ihrer höchst zweifelhaften politischen Erscheinung.

Das Stück zeigt, wie Eva, aus ärmsten Verhältnissen kommend, als kleine Schauspielerin sich langsam durch die Betten immer höherrangiger Politiker und Militärs zur Spitze der Macht empor arbeitet und als Ehefrau Perons die Masse des Volkes auf seine Seite bringt.

Die Ereignisse auf der Bühne werden durch eine Flut von Originalaufnahmen und Dokumentarfilmsequenzen der historischen Eva Peron auf einer riesigen, beweglichen Leinwand über der Szene kontrapunktiert. Die Bilder sprechen von der Magie ihrer Persönlichkeit, der Begeisterung des Volkes, von Evitas Triumphen und ihrem frühen Tod. Mit diesem Ende beginnt das Stück, um dann die Entwicklungsgeschichte als große Rückblende aufzurollen, mit kritischen Kommentaren einer Che-Guevara-Figur, die mit ihrem historischen Vorbild, außer der argentinischen Abstammung des Revolutionshelden, nicht das geringste zu tun hat, und der im Stück keine andere Funktion zukommt, als den Anschein politischer Ausgewogenheit zu erwecken, ein Bemühen, das einigermaßen absurd erscheint, wenn man sonst so konsequent an den politischen Zusammenhängen vorbeizudenken versucht, und das hier auch durch den Darsteller der Rolle, den ehemaligen Jesus des Pop-Musicals ‘Godspell’ David Essex, auf dessen Wunsch die Rolle des Che, wie man hört, noch erheblich erweitert werden mußte, keineswegs sinnvoller wird.

 

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