die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1994
Text # 359
Autor William Shakespeare
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Romeo und Julia/Customs
Ensemble/Spielort Estländisches Jugendtheater/Neue Bulgarische Universität/Richard Demarcos European Art Foundation/Edinburgh Festival Fringe
Inszenierung/Regie Elmo Nüganen
Sendeinfo SWF Kultur aktuell/WDR/SDR/BR/ORB Potsdam/Nachdruck: Darmstädter Echo

Zwei der 47 Inszenierungen, die Richard Demarco als Direktor der von ihm gegründeten European Art Foundation im Rahmen des diesjährigen Edinburgh Festival Fringe in dem viktorianischen Gebäude einer ehemaligen Volksschule vorstellt, haben mich in diesem Jahr mehr beeindruckt als alles, was ich bis dahin im offiziellen Programm des Festivals sehen konnte.

Das gerade zum Städtischen Theater von Tallinn ernannte ehemalige Estländische Jugendtheater zeigte seine preisgekrönte Inszenierung von Shakespeares ‘Romeo und Julia’. Die Aufführung findet unter freiem Himmel in einem Innenhof der alten Schule statt. Das Publikum nimmt unter einem ausgespannten Segeltuch auf grob gepolsterten, mit Sackleinen bespannten Kisten Platz. Drei Musikanten spielen auf alten Instrumenten; ein Diener bringt Glühwein heran und teilt ihn an die Zuschauer aus – und schon sind wir mitten unter den jungen Leuten von Verona, nehmen an ihren Maskeraden und Raufhändeln teil, sind Zeugen der schönsten und traurigsten Liebesgeschichte der Weltliteratur, die man wohl noch nie schöner und trauriger gesehen hat, lebendiger, lustiger, leichter, ungestümer und wilder, und die doch in den Liebeszenen so zart und verhalten bleibt und so ganz anders und neu erscheint, als sähen und hörten wir sie zum allerersten Mal.

Der gesamte Innenhof mit seinen hohen grauen Gebäuden wird in die Handlung einbezogen, mit der Säulenhalle im Hintergrund, den vielen Türen und Toren, hohen Zäunen, vergitterten Balkonen und Balustraden, Dachvorsprüngen und Laufstegen, die die verschiedenen Häuser verbinden. Die Aufführung dauert nur eindreiviertel Stunden. Sie ist voll von sprühenden Einfällen und verblüffenden szenischen Effekten, die sich so zwanglos-natürlich ergeben, als wären sie allesamt aus der unbändigen Spiellust der überwiegend sehr jungen Darsteller hervorgegangen.

Im Programmheft liest man, daß es in Estland bis zu unserem Jahrhundert kein Berufstheater gegeben habe. Vielleicht erscheint uns die Aufführung auch deshalb so frisch, dynamisch und originell, weil sie frei ist von dem ganzen unsichtbaren Ballast einer langen Theatertradition. Die an Professionalität kaum zu überbietende, brillante Inszenierung des jungen Regisseurs Elmo Nüganen, die auf jeder Bühne der Welt glänzend bestehen würde, erinnert daran, was Theater noch sein kann, wenn es auf alle Regiemätzchen verzichtet und sich wieder ganz und gar auf das Spiel seiner Darsteller verläßt.

Kaum weniger faszinierend als die Aufführung der estländischen Truppe war eine Arbeit, die von Studenten der Neuen Bulgarischen Universität unter dem Titel “Customs’ (Gebräuche) vorgestellt wurde. Es ist eine der konsequentesten Versuche, die ich kenne, eine Form von abstraktem Theater zu erfinden. Aus unartikulierten Lauten, Bruchstücken von Worten und Sätzen, Exklamationen, die manchmal an Vogelschreie, dann wieder an die Stimmen schnatternder Weiber erinnern, entsteht ein musikalisch-rhythmisch und szenisch durchkomponiertes Gefüge, das nach- und nebeneinander Freude und Trauer, Schmerz, Angst oder Hoffnung, Erwartung, Ungeduld und andere Gemütsbewegungen auf komische oder rührende Weise ausdrückt, doch keinerlei direkte Aussagen macht und offenbar nichts eindeutig Faßbares mitteilen will. Sechs bizarre Gestalten schwingen, schweben, gleiten durch einen Raum und weben aus realen Elementen menschlicher Verhaltensweisen ein szenisches, visuell und klanglich genau definierbares künstliches Gebilde, das so viel und so wenig bedeutet wie das Leben selbst.

In Shakespeares ‘Macbeth’ heißt es darüber: “Leben ist nur ein beweglicher Schatten, ein armer Spieler, der während seines kurzen Auftritts sich bläht und härmt und dann vergessen ist; eine Geschichte, die ein Irrer erzählt und die nur Klang ist und Raserei, bedeutungslos”.

Was wir einem Stück Musik oder einem Werk der bildenden Kunst längst zugestehen, daß sie nichts anderes sein oder bedeuten wollen als was sie sind, erscheint uns im Theater noch immer unzumutbar fremd.

Nach Oben