die Jahre als Londoner Kulturkorrespondent
1970 bis 2001

Jahr 1990
Text # 349
Autor Georg Büchner/Philippe Genty
Theater/ Edinburgh Festival
Titel Dantons Tod/Dérives
Ensemble/Spielort Ensemble Gerry Mulgrew/Compagnie Philippe Genty
Inszenierung/Regie Terry Mulgrew
Sendeinfo 1990.08.21/DLF/SWF Kultur aktuell/RIAS/RB

Einigen der erfolgreichsten Theatergruppen des wild wuchernden Rahmenprogramms der schottischen Festspiele ist in den letzten Jahren die Ehre zuteil geworden, ins offizielle Festivalprogramm aufzusteigen. Diesmal ist es sogar einer in Edinburg ansässigen Truppe gelungen, eine Auszeichnung, die vor allem wegen der damit verbundenen finanziellen Vergünstigungen mehr als willkommen ist. ‘Communicado’ hat über die Jahre mehrere erste Preise des Festival Fringe gewonnen und gilt heute als eines der originellsten, erfindungsreichsten Theaterensembles in Schottland.

Es sieht so aus, als wenn die jüngste Revolution in Osteuropa den Leiter der Truppe Gerry Mulgrew dazu bewogen hätte, eine englische Neufassung von Georg Büchners hierzulande selten gespieltem Schauspiel ‘Dantons Tod’ zu versuchen. Im Programmheft heißt es, die Inszenierung sei darum bemüht, den Geist des klassischen Werkes zu erfassen, das in der Intensität der zentralen Auseinandersetzung zwischen Robespierre und Danton über die Frage, in welchem Maße Terror und Diktatur zur Durchsetzung einer Revolution gehören, direkt zu uns heute spreche.

Wie in früheren Arbeiten der Truppe, hat man versucht, den Text mit musikalischen und choreografischen Elementen aufzulösen. Lieder und Gesänge, Sprechchöre und die lyrischen, scharfen oder klagenden Töne eines Cellos begleiten kommentierend die Vorgänge.

Die Not, ein Stück mit hundertfünfzig Rollen auf dreizehn Darsteller verteilen zu müssen, wobei auch den Protagonisten noch eine ganze Reihe anderer Aufgaben zugewiesen werden, zwingt zu Kompromißlösungen, die in diesem Fall noch erstaunliche Wirkungen haben. Für die Massenszenen der Nationalversammlung drängt Mulgrew die Darsteller in einen engen Kasten, der in anderen Szenen zur Gefängniszelle oder zur Barrikade, Rednertribüne oder Hinrichtungsstätte wird. Die große Konfrontation zwischen Danton und Robespierre findet an einem einfachen Tisch im Vordergrund der Bühne statt.

Mulgrew läßt die Texte gelöst und ohne theatralisches Pathos sprechen. Die Inszenierung hat Spannung, Tempo und besonders durch ihre musikalischen Akzente auch Atmosphäre. Was ihr fehlt, ist leider gerade die Intensität des Konflikts zweier überdurchschnittlich großer Persönlichkeiten. So wird gegen die Absicht des deutschen Autors das wandelbare, der Demagogie ausgelieferte Volk zum eigentlichen Helden des Dramas.

Die französische Compagnie Philippe Genty sorgte am Anfang der zweiten Woche des diesjährigen Festivals für einen der schönsten Theaterabende der letzten Jahre. ‘Dérives’ ist ein phantastisch-sinnliches Schau-Spiel, das sich gewisser Zaubertricks des Prager Schwarzen Theaters bedient, sich sonst aber mit nichts anderem vergleichen läßt und sein Publikum einfach in staunende, jubelnde Begeisterung versetzt.

Ein von innen beleuchteter, winziger Eisenbahnzug fährt schnaubend und dampfend über die dunkle Bühne. Wenn sich die Schwaden legen, erkennt man die Figur eines Mannes mit Homburger und langem grauen Mantel. Aus einem Koffer entnimmt er eine identisch aussehende kleinere Figur, die wie ein Ballon an einem Seil gehalten nach oben schwebt. Auch er selbst hebt vom Boden ab und hängt für eine Weile wie eine Gestalt aus einem Gemälde Chagalls in der Luft. Eine dritte Figur normaler menschlicher Größe erscheint – und die Vermehrung der Doppelgänger jeder denkbaren Größenordnung, die alle gleichermaßen beweglich und lebendig wirken, geht weiter.

Andere, traumhaft sich überlagernde Sequenzen kommen und gehen: erotische Szenen mit unglaublich verführerischen weiblichen Puppengestalten; ein vielarmiges Monstrum, das einen nackten Mann aus sich herausstülpt; eine weiße Spinne, die sich in ein menschliches Wesen verwandelt und den Mann in ein Geflecht von elastischen Seilen einspinnt; winzige menschliche Figuren, die wie Fliegen surrend durch die Luft schwirren; eine nahezu nackte weibliche Riesengestalt, die kleine Männer wie Schaschlik aufspießt und genüßlich verspeist, durch den Bühnenraum schwimmt, von frivolen dicken rosa Schleierfischen angeknabbert wird und sich in ein rotes Seidentuch auflöst, das rauscht und wogt und tost wie das Meer, zur Sturmflut sich aufbäumt und wieder abschwillt und in graubraunen Prielen versinkt; ein sandünenartiges Segeltuch, unter dem es brodelt, seufzt und quiekt, bis wurmförmiges Getier aus menschlichen Figuren, Händen und Armen hervorbricht und sich miteinander vergnügt; eine Explosion, die ein Riesenei mit durchscheinend flexibler Hülle freigibt mit einer Frau, einem Mann, die einander nicht erreichen können, sich in Puppen verwandeln und wieder zu wirklichen Menschen werden, die sich lieben oder mißhandeln, sich irgendwann auflösen und vergehen.

Und dann wieder Zuggeräusche, wie zu Beginn: Ein Mann mit Homburger, langem grauen Mantel und Koffer bewegt sich dem Bahnhof zu.

‘Dérives’ ist ein beredtes Spiel ohne Worte mit Menschen, menschlichen Puppen und Gegenständen zu Musik und Geräuschen, eine Reise ins Reich der Träume, der unbewußten Sehnsüchte und Ängste, hinab in die tiefen Speicher der Phantasie, der kollektiven Erinnerung. Ein unbeschreibliches Vergnügen.

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